Von Julia V. Izotova, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Koch-Metschnikow-Forums
Anfang 2012 erhielt das russische Gesundheitssystem einen neuen rechtlichen Rahmen. In Fortsetzung der Reformen am Versorgungsystem, die mit der Verabschiedung des Krankenversicherungsgesetzes 2010 anfingen, trat am 29.11.2011 trat Föderalgesetz Nr. 323 über die Grundlagen der medizinischen Versorgung der Bürger der Russischen Föderation in Kraft.
Es ersetzte über 30 Rechtsquellen, die entweder noch aus sowjetischer Zeit oder von folgenden Regierungen stammten und Steuerung und Aufbau der Gesundheitsversorgung, Genehmigungsverfahren und Zulassung von Behandlungen, Aus- und Weiterbildung des medizinischen und pharmazeutischen Personals sowie die finanzielle Aspekte des Gesundheitswesens festlegten. Das umfangreichste Dokument bisher war die "Grundlage der russischen Gesetzgebung über die medizinische Versorgung der Staatsbürger" vom 22.07.1993. Offenbar hatte sich seitdem viel in Staat und Versorgungssystem geändert und erforderte einen neuen Rechtsrahmen.
Dreh- und Angelpunkt der Gesundheitsversorgung in jedem Land ist die Finanzierung. Das neue Gesetz legt Finanzierungsquellen für alle fachbezogene Versorgungsgruppen fest, darunter die (1) medizinische Grundversorgung, die (2) qualifizierte Fachhilfe, (3) die Notfallhilfe und spezialisierte Notfallrettungsdienste und die (4) palliative Versorgung.
Eine wichtige Neuerung besteht darin, dass für drei dieser vier Bereiche – Finanzierung des 1., 2. und 4. Sektors – die Möglichkeit vorgesehen ist, zusätzlich Gelder heranzuziehen, die nicht von der Öffentlichen Hand kommen, d.h. nicht aus Krankenkassenfonds, Subventionen der föderalen und regionalen Haushalte. Einzig für die Notfallversorgung ist das nicht vorgesehen. Somit sichert der Staat den Bürger/-innen und Einwohner/-innen in Notfällen ein Recht auf kostenfreie qualifizierte Hilfe zu.
Für die anderen Fachversorgungsgruppen öffnet diese Gesetzesnovelle das Versorgungssystem für die Einführung oder Erweiterung privater Leistungen, i. d. R. durch Barzahlung. Allerdings es ist kaum wahrscheinlich, dass diese in großem Umfang tatsächlich ausgedehnt werden. Das Gesetz erkennt vielmehr den faktischen aktuellen Stand der Dinge an: Bis zu einem Drittel der Einnahmen eines Krankenhauses stammen bereits direkt aus privaten Zahlungen der Patienten.
Der Hauptgrund für diesen Umfang privater Behandlungskosten ist in den meisten Fällen das Missverhältnis zwischen den bislang rechtlich festgelegten Behandlungstarifen und den Gestehungskosten der Leistungen und Materialien für die Versorgungseinrichtungen. Für diese privaten Ausgleichszahlungen schafft das Gesetz nun einen Rechtsrahmen
Die Disparität zwischen faktischen Behandlungskosten und rechtlich festgelegten Erstattungstarifen ist eng mit der Funktionsfähigkeit der ärztlichen Selbstorganisation verbunden. Paragraph 76 von Gesetz Nr. 323 gewährt gemeinnützigen medizinischen Fachverbänden das Recht auf "Teilnahme an Tarifvereinbarungen für medizinische Leistungen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung und an der Tätigkeit der Gesundheitsfonds, ebenso an der Ausarbeitung der regionalen Umsetzungsprogramme der staatlichen Garantien zur kostenfreien Behandlung". Theoretisch kann das bedeuten, dass die künftig ausgehandelten Erstattungstarife mindestens die Selbstkosten der Versorgungseinrichtungen decken werden. De facto wird die Nutzung dieser Möglichkeit von den tatsächlich im Gesundheitsfonds verfügbaren Mitteln und deren sektoraler Aufteilung abhängen.
Dennoch: Die Möglichkeit, zusätzliche Finanzierungsquellen heranzuziehen, ist von größter Bedeutung für die Funktionsfähigkeit und Entwicklung des russischen Gesundheitswesens. Trotz beispielloser Steigerung der öffentlichen Finanzierung in den letzten Jahren reichen die Mittel nicht – weder für das gesamte Gesundheitswesen noch für die einzelnen Versorgungsträger. Der Gesetzgeber hat einheitliche, für das ganze Land obligatorische Behandlungsstandards eingeführt und vorgeschrieben. Aber nicht alle Regionen, nicht alle medizinischen Einrichtungen konnten und können diesen Standards tatsächlich entsprechen.
Ursachen liegen vor allem in der Strukturqualität begründet: im Personalmangel infolge geringer Gehälter und Migration aus schwächer strukturierten Regionen, in Qualifikationslücken des Personals oder in ausbaufähiger technischer Ausstattung mancher Einrichtungen. Viele dieser Probleme mussten die Versorgungseinrichtungen bislang aus eigener Kraft lösen, ohne Subventionen aus dem föderalen oder regionalen Haushalt. Die erweiterte finanzielle Selbstständigkeit soll nun zur dezentralen Handlungsfähigkeit und zur eigenständigen Entwicklung lokaler Lösungen beitragen.
Das neue Gesetz definiert erstmals den Begriff "medizinische Organisation" und setzt dabei staatliche und private medizinische Einrichtungen gleich. Von nun an sollen sich staatliche und die private Medizin an einheitliche Regeln halten und in einem gemeinsamen Markt existieren und kommunizieren, in dem Wettbewerb möglich ist, aber durch Mindeststandards geregelt wird. Für private Organisationen bedeutet das eine erleichterte Zusammenarbeit mit der gesetzlichen Krankenversicherung.
Wie wir schon in einer früheren Ausgabe dargestellt haben ("Telegramm" 5/2011), müssen private Dienstleister nun ihr Vorhaben, gesetzlich versicherte Bürgen zu versorgen, nur anmelden. Es gibt keine Zulassungsverfahren mehr. Die staatlichen Institutionen erhalten auf diese Weise eine Möglichkeit, eigene Kapazitäten von Überbelegung zu entlasten; der Umfang dieser Entlastung ist auf Grundlage der verfügbaren Informationen bislang kaum abzuschätzen.
Einen weiteren Schwerpunkt im neuen Gesetz bilden Prävention und Gesundheitsförderung. Dem Thema haben die Versorgungsstrukturgesetze bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl dieser Ansatz gesetzlich prinzipiell vorgesehen war. Die internationale Präventionsforschung diskutiert derzeit, in welchem Umfang Versorgungssysteme finanziell durch Prävention entlastet werden können, oder ob die Behandlungskosten nur auf die letzten Lebensjahre verschoben werden ("Kompressions-These"). Mindestens für einzelne Indikationsbereiche belegen die Modellrechnungen aber, dass Prävention für Versicherte, Steuerzahler und öffentliche Haushalte deutlich günstiger ist als klinische Akutbehandlungen.
Die Finanzierung von Präventionsmaßnahmen ist in der Russischen Föderation durch das Programm staatlicher Garantien für kostenfreie Behandlungen festgelegt. Das Programm 2012 sieht zwar keinen Finanzierungssprung für Prävention vor, aber eine Steigerung der in den nächsten Jahren vorgesehenen Mittel ist nicht auszuschließen.
Die gesteigerte Aufmerksamkeit für Prävention und Gesundheitsförderung ist auch an Paragraph 30 des Gesetzes Nr. 323 zu erkennen. Hier führt der Gesetzgeber eine neue Norm für Betriebliche Gesundheitsförderung ein: Der Arbeitsgeber muss nun Vorkehrungen für die Prävention ansteckender und chronischer arbeitsplatzbezogener Erkrankungen der Mitarbeiter treffen. Das Gesetz enthält allerdings keinen ausgearbeiteten Katalog von Strafmaßnahmen für die Vernachlässigung dieser Pflicht; die Umsetzung wird somit von der Kontroll- und Sanktionspraxis der Behörden vor Ort abhängen.
Unsere kurze Analyse zeigt, dass das neue Versorgungsgesetz zunächst den Entwicklungen des russischen Gesundheitswesens über die vergangenen Jahrzehnte nun einen gesetzlichen Rahmen und damit mehr Rechtssicherheit gibt, insbesondere hinsichtlich der privaten Zusatzaufwendungen und damit finanzierter Leistungen in den staatlichen medizinischen Einrichtungen. Weiter bietet das neue Gesetz Ansatzpunkte für die Weiterentwicklung der Bevölkerungsgesundheit zur Querschnittsaufgabe auch nichtstaatlicher Akteure, z. B. durch Verbreitung von Präventionsansätzen für alle Bevölkerungsgruppen im Zusammenwirken mit nichtstaatlichen Akteuren.
Das Jahr 2012 wird erste Hindernisse und Erfolge der Einführung des neuen Gesetzes zeigen. Hierüber sollen weitere Analysen folgen.
02.03.2012
Das Gesundheitsreformgesetz der Russischen Föderation: Öffnung für private Behandlungszuschüsse, Ausbau der Betrieblichen Gesundheitsförderung
