Europaweit auf dem Vormarsch: das Prostata-Karzinom

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24.06.2013



Europaweit auf dem Vormarsch: das Prostata-Karzinom

Von Sven Stabroth, Assistent des Vorstands, Koch-Metschnikow-Forum

Interview mit Prof. Dr. A. Erkovich, Leiter des Lehrstuhls für Urologie an der Staatlichen Medizinischen Universität Novosibirsk, Chefurologe des Sibirischen Föderalbezirkes,
Chefarzt der urologischen Klinik im Föderalklinikum Novosibirsk.


KMF:
Sehr geehrter Herr Prof Erkovich, der häufigste Tumor des Mannes ist das Prostatakarzinom. Wie stellt sich die Situation in Russland im Allgemeinen und speziell in der Region Novosibirsk dar?

Erkovich:
Das Prostata Karzinom zählt heute zu einem der ernsthaftesten medizinischen Probleme in der männlichen Bevölkerung. Epidemiologische Forschungen über die weltweite Verbreitung des Prostata-Karzinoms zeigen, dass vor allem in den hochentwickelten Ländern Europas und Nordamerikas die höchste Erkrankungshäufigkeit zu beobachten ist. In Europa handelt es sich um die verbreitetste Krebsart (bei Männern), mit einer durchschnittlichen Inzidenz von 214 Fällen je 100.000 Männer liegt sie vor Lungen- und (Mast-)Darmkrebs.

Das Wesen der Erkrankung, die sich in der Regel in der dritten Lebensdekade eines Mannes im Alter zwischen 40 und 50 Jahren ausbildet, hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Urologische Daten bei erwachsenen Männern weisen ein hohes Risiko der Ausbildung oder des Auftretens der Erkrankung auf. Bei über 50-jährigen sind in 41% der Fälle mikroskopisch PCa-Ausbildungen anzutreffen und ungefähr 9.5% davon sind klinisch relevant. Bei jedem 6. geborenen Jungen besteht die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung durch PCa, die dann eine vollumfängliche Diagnostik und Therapie verlangt.

Die Erkrankungshäufigkeit ist Ausdruck einer Zunahme der Lebensdauer von Männern als prozentualer Anteil erwachsener Männer an der Gesamtbevölkerung, eines hohen Lebensniveaus, von Ernährungsvorlieben, der Wohnsituation, der Umwelt sowie von genetischen Faktoren. In den wirtschaftlich entwickelten Ländern macht das PCa 15% aller männlichen Krebsfälle aus, in Entwicklungsländern 4%.

Ursächlich ist eine erhebliche Störung des normalen Lebenszyklus der Zellen der Vorsteherdrüse unter Einfluss von Testosteron. Die Natur dieses Phänomens ist noch nicht vollständig geklärt.

Auch in Russland ist eine wesentliche Zunahme an PCa-Erkrankten zu beobachten. Nach Daten des Moskauer Gerzen-Instituts ist in den vergangenen 10 Jahren eine Zunahme der Inzidenz um 155% festzustellen. Die jährliche durchschnittliche Zunahme in verschiedenen Altersgruppen beträgt 7,9% bis 15,6%.

Zu dieser Beobachtung verhilft uns ein qualitativer Sprung durch eine verbesserte Diagnostik, bedingt durch einen flächendeckenden Einsatz des onkologischen Markers für PCa, dem Prostata-spezifischen Antigen (PSA), und die Durchführung von Biopsien. Leider ist in mehr als der Hälfte der diagnostizierten Falle die Krankheit bereits in einem fortgeschrittenen Stadium.

Die regionale Erkrankungshäufigkeit in der Russischen Föderation bewegt sich zwischen 26,51 bis 33,18 bezogen auf je 100.000 Männer der Gesamtbevölkerung (im Sibirischen Föderalbezirk 29,23; Daten für 2009). In der Stadt Nowosibirsk und im Oblast, wo derzeit ca. 337,8 tausend Männer im Alter von mehr als 50 Jahren leben, wurden 2952 PCa-Diagnosen registriert, das entspricht einem Anteil von 41,87% an allen onkologischen Erkrankungen. Die Inzidenz in Nowosibirsk anhand der statistischen Daten aus dem Jahr 2011 beträgt 72,6 pro 100.000 Männer der Gesamtbevölkerung. Im Jahr 2010 lag dieser Wert mit 65 etwa vergleichbar hoch, im Jahr 2009 jedoch bei 58.1. Ein Kommentar erübrigt sich.

KMF:
Mit einem weiteren Anstieg der Lebenserwartung bei Männern wird das Thema Prostatakarzinom künftig an Relevanz zunehmen. Welche Chancen sehen Sie in Prävention und Früherkennung, besonders unter dem Gesichtspunkt der Patienten Sibiriens?

Erkovich:
An erster Stelle steht die gesundheitliche Aufklärung der Bevölkerung. Ein jeder Mann sollte darüber Bescheid wissen, dass nach Vollendung des 50. Lebensjahres eine Blutanalyse auf das PSA notwendig ist. Notwendig ist auch eine jährliche Visite beim Urologen. Übrigens wird selbst bei verordneten Reihenuntersuchungen der Bevölkerung die Untersuchung allein von einem Chirurgen durchgeführt! Und das, obwohl gerade PCa statistisch an 1. Stelle der onkologischen Erkrankungen bei Männern liegt! Aber gerade ein Erkennen der Erkrankung in einem frühen (lokalen) Stadium, unter modernen Bedingungen und unter Verwendung moderner Geräte garantiert eine fast vollständige Heilung.

Wir haben lange Zeit die Rolle des Urologen und die Rolle der Wissenschaft über Männerkrankheiten unterschätzt. Eine der Folgen sind ein punktuelles Zurückbleiben in der Diagnostik und Therapie bei Männerkrankheiten. Zum Glück wird diese Lücke in unserem Gesundheitssystem gerade in schnellem Tempo abgebaut. Auch das Interesse der männlichen Bevölkerung an der eigenen Gesundheit ist gewachsen. Eine Vielzahl macht sich Gedanken über die Lebensqualität unabhängig vom Lebensalter. Eine große Bedeutung hat auch die technische Ausstattung der Spezialisten bei der Diagnose und Therapie von Männerkrankheiten. Das sind an erster Stelle urologische Polikliniken. Die notwendige Ausstattung für ihre Behandlungsräume ist in normativen Dokumenten klar und deutlich vorgeschrieben.

Hinsichtlich der Frage der "kranken" staatlichen Medizininfrastruktur ist noch keine Genesung in Sicht. Die Finanzierung ist nicht ausreichend. Die Ausstattung ist teuer und wird in der Regel importiert. Vor einiger Zeit hatten wir die Gelegenheit einer PCa-Biopsie in der Stadt Novisibirsk beizuwohnen. Nicht einmal in einer Poliklinik gibt es eine Biopsiepistole. Eine Biopsie wird nur in 14 Behandlungseinrichtungen, 3 davon private, durchgeführt. Hauptsächlich sind es stationäre Einrichtungen bzw. Dispensaire (auf dem Gelände der Poliklinik). In 6 von ihnen gibt es kein Ultraschallmesser (Rektalsonde mit einem Spezialaufsatz für die Biopsie). Das ist vergleichbar mit Schießen ohne Visier. Und das unter den Bedingungen eines generellen Booms in der Medizintechnik! Übrigens deckt der Versicherungstarif der gesetzlichen Krankenversicherung nicht den Preis für Einweg-Biopsie Nadeln.

Die kolossale Rolle der Pathomorphologen darf dabei nicht unerwähnt bleiben, von deren Befund in vielerlei Hinsicht das weitere Schicksal des Patienten abhängt. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass die Freundschaft zwischen Urologen und Pathomorphologen unzerstörbar sein sollte. Der Befund ist für alle verständlich und standardisiert. Eine gegenseitige Rücksprache zwischen Spezialisten ist verpflichtend. Wenn man all diese Bedingungen und einige andere im Blick hat, dann kann man von einer frühen PCa-Diagnostik sprechen, seiner Prophylaxe, insofern man das Entdecken von frühen Anzeichen einer Krebserkrankung erfolgreich kontrollieren kann und damit das Risiko eines weiteren Wachstums des Karzinoms vermindert.


KMF:
Sie haben sich bei einer Konferenz in Nowosibirsk mit modernen Methoden und Technologien der Diagnostik und Therapie des Prostatakarzinoms auseinandergesetzt. Sehen Sie, dass künftig höhere Heilungschancen bei Betroffenen bestehen durch Information sibirischer Ärzte, wie sie durch das Koch Metschnikow-Forum und die Stiftung Männergesundheit angeboten werden?

Erkovich:
Ich halte es für absolut unerlässlich, Ausbildungsprogramme mit ausländischen Kollegen fortzusetzen. Von Ihnen kann man Vieles lernen. Eines der ersten Unterrichtsthemen sollte die richtige Organisation des Diagnose-Prozesses sein, die Aufeinanderfolge der Untersuchungs- und Behandlungsprozeduren, Anmeldung, Weitergabe und Archivierung von medizinischen Informationen. Das befähigt zu einer hohen Produktivität des Diagnose- und Behandlungsprozesses. Bei der Männergesundheit haben wir im Gegensatz zur Frauengesundheit wie man im Schach zu sagen pflegt, den Anschluss verpasst. Es ist notwendig, diesem Punkt besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Es ist nicht nur wichtig, notwendige administrative Schritte und Entscheidungen vorzunehmen, sondern auch die studentische und postgraduierte Ausbildung im Blick zu behalten. Derzeit wird darauf besonders geachtet. Im Rahmen der Allrussischen Gesellschaft der Urologen bilden sich gerade spezielle Sektionen zu Männergesundheitsthemen, z.B. männliche Genitalchirurgie und reproduktive Gesundheit. Im Sibirischen Föderalbezirk hat das Rektorat den Urologie-Lehrstuhl der staatlichen Universität Nowosibirsk mit der Ausarbeitung eines Programms zum Thema Andrologie für Studenten des 6. Studienkurses und denjenigen in Internatur beauftragt. Schließlich, und das kann man ruhig stolz sagen, haben wir uns in die internationale urologische Gemeinschaft integriert. Das Verhältnis hat sich von Wachsamkeit in Interessiertheit verkehrt. Den Beweis dafür gibt die letzte russisch-deutsche Konferenz unter der Ägide des Koch-Metschnikow-Forums, an der auch russische Spezialisten als Redner teilgenommen haben, die zweifelsohne internationales Ansehen genießen. An der Konferenz haben mehr als 200 Ärzte der Stadt, des Oblast und aus Städten des Föderalbezirkes Sibirien teilgenommen. All das wird sich im Ergebnis in einer Hebung des professionellen Niveaus der Spezialisten zeigen, und sowieso in der Diagnose und Behandlung des PCa.


KMF:
Wie und wo sehen Sie Beratungs- und Informationsbedarf für die Betroffenen? Gibt es eine
Beratungshotline bzw. sollte eine solche in Sibirien eingeführt werden?

Erkovich:
Das Problem zuspitzend könnte man behaupten, dass die Gewähr des Erfolgs in der Praxis in vielem von der Kraft und Verantwortung verschiedener medizinischer Kreise und Experten abhängt. Man darf nicht nur auf die Kontrolle und Ausführung von Programmen und Anweisungen hoffen. Man muss die ökonomischen Hebel für den Anstoß der ganzen Kette, von der Propagierung eines gesunden Lebensstils, allgemeine kostenlose professionelle Bereitstellung von Informationen, über die  Erkrankung der Prostata, einschließlich des PCa, über die Massenmedien, und bei einer ersten Untersuchung bis zur Etablierung eines genauen Patientenpfades in den Behandlungseinrichtungen, von Beginn mit Verdacht auf bösartige Bildungen der Prostata für die Diagnose und bei Bestätigung der Diagnose für die Behandlung. Im Idealfall soll der Patient die Wahlmöglichkeit für die effektivste Behandlungsmethode haben, über die der Arzt den Patienten detailliert informiert. Der Arzt wiederum sollte im Idealfall über die Richtung der effektiven Behandlung bestimmen können. Im Resultat soll die telefonische Beratung völlige Transparenz und kompetente Auskunft für beide Seiten über die medizinischen Einrichtungen schaffen, wo man notwendige Hilfe bei Vorliegen eines Prostatakarzinoms bieten kann. Es geht um nichts Geringeres als zu bestimmen, welche Behandlungs- und Diagnoseeinrichtungen vorhanden sind.

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